Die Sängerin

 

Die Sängerin lässt mir keine Ruhe. Ich habe eine lange Geschichte mit ihr, von der sie nichts weiß – außer sie hat vielleicht doch meinen Brief gelesen, herausgefischt aus den 999 anderen, die sie noch immer jeden Monat bekommt. Mehr als einen Wäschekorb voll. Ich bin nicht die einzige, die geschrieben hat, denn sie ist weltberühmt und hat viele Herzen berührt. Dennoch ist meine Geschichte mit ihr besonders.
Warum ist sie besonders? Heute, nach sehr vielen Jahren, in denen die Sängerin scheinbar keine Rolle mehr für mich gespielt hat, weil alle ihre Schallplatten verschwunden waren, weg aus meinem Leben, da klingt sie plötzlich wieder in mir. Klopft zärtlich und dennoch drängend an mein Ohr, als wolle sie etwas wiedererwecken. 
Ihre Stimme hat sich verändert. Manche Töne trifft sie nicht mehr, das feine für sie so typische Vibrato ist nun zu einem Zittern geworden. Dennoch singt sie. Sie singt, weil sie singen muss, weil es eine Lebensnotwendigkeit ist für sie. Mir kommt es vor, als würde sie nur für mich singen, aber natürlich ist es so, dass sie hauptsächlich für sich selbst singt. 
Doch sie braucht auch mein Zuhören. Sie braucht das Zuhören aller, die in ihrer Stimme mehr hören können, als die Erinnerung an den Klang einer jungen Frau, die auszog, um das Leben zu singen. 
Sie singt für mich, damit ich hören kann, dass wir zwar altern, aber dass die Leidenschaft nie aufhört. Vielleicht lässt die Kraft nach. Ja, sie lässt auf jeden Fall nach. Und irgendwann ergeben wir uns, lassen uns hineinfallen in diese Kraftlosigkeit und nehmen es hin, dass wir nicht dagegen ankommen. 
Aber bis wir soweit sind, singen wir, jeder mit seiner eigenen besonderen Stimme. Vielleicht zitternd, vielleicht krumm. Ich liebe die Sängerin sehr. Sie ist hochbetagt eine Schönheit von ganz besonderer Art. Zerbrechlich und voller Leidenschaft, in ihrem Blick eine Scheu und eine Zurückhaltung und dennoch blitzt daraus die Kraft einer Frau, die viel gesehen und gefühlt hat. Sie lacht über den nicht getroffenen Ton, den sie soeben versucht hat und der ihr entwischt ist. Sie lacht, als würde sie diesem Ton freudig nachwinken. Kein Bedauern über die verlorene Stimme aus der Jugend. 
Die Sängerin ist so anrührend in ihrem Annehmen dessen, was sie jetzt ist. Ich möchte sie am liebsten dafür umarmen. Das Alter umarmen. Das Sein in diesem Moment. Ich möchte ihre Weisheit umarmen, die sie, uneitel wie sie ist, aussendet, ohne sich ihrer bewusst zu sein. 
Ich bin froh, dass sie zu mir zurückgekommen ist, unerwartet, aber genau zum richtigen Zeitpunkt. Die Sängerin war und ist es noch immer: ein Teil von mir.

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