Mein Vater im Himmel

Ich weiss nicht mehr genau, wann ich die kleinen, abgeschabten Tagebücher meines Vaters gefunden habe. Ich muss wohl zwischen 15 und 17 Jahre alt gewesen sein. Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Umzugskiste mit alten Büchern aus seinem Nachlass und dazwischen diese kleinen Notizbücher, eng mit Bleistift beschrieben in Sütterlinschrift. Obwohl ich nichts davon entziffern konnte, nahm ich sie an mich ohne meine Mutter zu fragen. Es war alles, was mir von meinem Vater zu diesem Zeitpunkt noch geblieben war, von den vagen Erinnerungen einmal abgesehen. 
Unser Familienleben war nach seinem Tod chaotisch verlaufen. Überstürzt mussten wir aus dem großzügigen Pfarrhaus ausziehen, meine 23jährige Mutter mit mir und meinen beiden Geschwistern, wobei mein Bruder erst einige Wochen alt war. 
Die Tagebücher, das konnte ich sehen, beschrieben die Zeit von 1945 bis 1948. Mein Vater war also damals, als sie geschrieben wurden, in meinem Alter gewesen, ein Jugendlicher, der das Ende des zweiten Weltkrieges hautnah miterlebt hatte. Wer war mein Vater? 
Wenn ich als 5Jährige in der Kirche „Unser Vater im Himmel“ hörte, war für mich klar, wer gemeint war: Mein Vater. Und da er Pfarrer gewesen war, fand ich es nur natürlich, dass die ganze Gemeinde ihn als „unser Vater“ bezeichnete. Auch dass sein Name geheiligt sein möge war nachvollziehbar, denn wer im Himmel war, konnte nicht anders als heilig sein. 
Mit seinem frühen Tod war jedoch bei uns der Boden unter unseren Füßen eingebrochen. Er war die tragende Säule in der Familie gewesen und so begann für mich eine traumatische Zeit des Verlusts, der Unsicherheit und der Verzweiflung, die durch die psychische Labilität unserer Mutter nur verstärkt wurde. Meine Erinnerung an ihn mischte sich mit all den Anekdoten, die über ihn erzählt wurden, sodass ich mir nie ganz sicher sein konnte, was davon wirklich mein eigenes Erleben war. Die äußeren Ereignisse in den Jahren danach nahmen ihren Lauf und mit ihnen wurde auch mein Erinnern schwächer und schwächer und verblasste hinter einer nebulösen Wand der unterdrückten Trauer. 
Erst Jahre später nahm ich die Tagebücher aus der Schublade und begann Buchstabe für Buchstabe zu entziffern, las die Sütterlinschrift wie eine Erstklässlerin ihre ersten Buchstaben. 
Mein Vater war anders, soviel offenbarte sich mir allein durch wenige seiner Sätze. Er war engagiert und empfindsam. Der Krieg und der gefallene Vater hatten ihn emotional aufgewühlt. Vor meinem inneren Auge sehe ich die von ihm beschriebene Szene, wie er sich durch alltägliche Aufgaben abzulenken versucht: Mit einem Bienenstock auf einem Leiterwagen wandert er von Dorf zu Dorf, um einen geeigneten Platz für sie zu finden. Überall wird er abgewiesen, aber er gibt nicht auf. 
Man hielt ihn für psychisch labil - es war damals nicht üblich, seine Gefühle und emotionalen Schwankungen offen zu zeigen. Ihm setzten die Enttäuschung über sein Land und das Entsetzen über das, was geschehen war, zu. 
Mein Vater hat mir vieles hinterlassen, nicht nur die Tagebücher. Er hat mir den Sinn für Gerechtigkeit hinterlassen und die Überzeugung, dass Krieg nur Opfer und Verlierer kennt und niemals Gewinner. Seine Stimme war laut, und das in doppelter Hinsicht. Was er sagte, hatte Gewicht. Das Wort war ihm heilig, auch das Wort, das er mir gab, wenn ich etwas zu erzählen hatte. Er hörte zu. Ich habe diesen Vater geliebt, obwohl ich ihn nur fünf Jahre kannte, und er steht heute noch hinter mir. Seine Persönlichkeit machte schon in seiner Jugend Eindruck, als Erwachsener war er ein Mensch, der polarisierte. 
Wer war er, so frage ich mich immernoch oft. Die einen sagen, er sei ein Egoist gewesen, die anderen sagen, er habe Tag und Nacht den Menschen zugehört und sich für sie eingesetzt. 
Verstörend, wenn meine Schwester ihn als Tyrannen bezeichnet, sie, die sich doch angeblich an nichts erinnern kann, war sie doch erst drei Jahre, als er starb. 
Wer also war er? Ich fühle in mir nur den Vater, der mich mit liebenden, fürsorglichen Augen ansah. Wenn ich heute Mut brauche, steht er mir zur Seite mit seiner lauten Stimme. Er ist für mich der, der er für mich war, der, der bei mir am Bett saß, wenn ich krank war. Er kann ja für mich nur der sein, den ich gesehen und erlebt habe. Der Mann, der sich um Bienen, um Menschen, um Kinder, um Tote und Lebende gekümmert hat. Der nie ein Blatt vor den Mund nahm und dem es egal war, ob er sich damit unbeliebt machte. 
Das war er. Das ist er. Mein Vater.

(Text ist beim „Soulwriting“ entstanden mit Sabine Schreiber zum Thema „Vater“) 

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