Wahrhaftigkeit oder Authentizität?

 

Wahrhaftigkeit ist eigentlich ein altmodischer Begriff, heute spricht jeder von Authentizität. Gemeint ist damit, dass man sich gibt wie man ist, dass Gedanke, Wort und Tat eine Einheit bilden, dass unser Verhalten unverfälscht und ehrlich ist, dass man zu seinen Werten steht.
 In einer Welt des Scheins und der erfundenen Wahrheiten kommt also merkwürdigerweise ein Begriff wie „authentisch“ daher und biedert sich an wie ein Clown auf einer Beerdigung. Es werden Kurse angeboten, die vollmundig anpreisen, wie man es schafft, authentisch „rüberzukommen“, also authentisch zu wirken, ohne es unbedingt sein zu müssen. Glaubwürdig lügen zu können, erfordert, dass man sich selbst überzeugend belügt, damit man daran glauben und diese erfundenen Geschichten dann authentisch als Wahrheit verbreiten kann. Viele denken, dass genau das die Schauspielerei ausmacht, dass Schauspieler Meister sind im glaubhaften Lügen. Nun ist „Authentizität“ ein Fremdwort und viele können es ironischerweise nicht einmal richtig aussprechen. Oft hört man „Authenzität“. 
Das Wort „Wahrhaftigkeit“ dagegen fällt im Alltag eher selten. Es ist ein Wort, das wir am ehesten aus der Kirche kennen, aus dem Gottesdienst: „der wahrhaftige Gott“, „wahrhaftig auferstanden“. Man würde von der Auferstehung Christi wohl kaum von einer „authentischen“ Auferstehung sprechen. 
Ist Wahrhaftigkeit also mehr als nur Authentizität? Knüpft sie an etwas Heiliges an, an etwas sehr Tiefes, Ursprüngliches? 
In meiner Schauspielausbildung sprach man immer von Wahrhaftigkeit. Es ging dabei um Einfühlungsvermögen, man sollte erreichen, dass man die Figur, die man spielte, wirklich fühlte und war und nicht nur so tat, als sei man sie. Für junge Menschen ohne große Lebenserfahrung ist das nahezu unmöglich. Wir flüchteten uns also oft in den Schein, statt dem wahrhaften Sein zu folgen. 
In meiner Familie wurde sehr viel Wert darauf gelegt, wahrhaftig zu sein. Mein Vater nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, Unehrlichkeit aufzudecken. Sich selbst und den eigenen Werten treu zu bleiben, egal wie unpopulär man in seinen Meinungen oder Haltungen war, Fehler zugeben können und sich auch mal schwach zeigen zu können - all dies war ihm wichtig. Wir Kinder lernten früh, Lügen zu entlarven, allerdings auch die Kunst, so perfekt zu lügen, dass man glaubwürdig schien, doch dies in vollem Bewusstsein, dass man gelogen hatte. 
Sind Schauspieler nun gut trainierte Lügner oder Menschen mit besonders viel Einfühlungsvermögen, Sensibilität und Aufrichtigkeit? Wahrhaftigkeit und die modern gewordene sogenannte Authentizität sind für mich wie zwei unterschiedliche Lebenswege, auch wenn ursprünglich eine gleiche Bedeutung dahinter steht. Jemand der versucht, so authentisch wie möglich zu scheinen, wird dies als gutes Mittel zu nutzen verstehen, um erfolgreich sich selbst vermarkten zu können. Eine Legende für den eigenen Lebensweg zu erfinden, diese Legende wieder und wieder zu erzählen, bis man sie selbst glaubt, ist erfolgversprechend, zumindest dann, wenn man Erfolg daran misst, viel Geld zu verdienen und bekannt zu sein. Diese Legenden und erfundenen Geschichten sind das Elixier einer jeden Talkshow. 
Wahrhaftigkeit hingegen ist einer steilen Karriere eher hinderlich, denn die Wahrheit hat viele Seiten und lässt sich kaum einfangen. Meinungen und Sichtweisen sind hier vielschichtiger, lassen sich nicht auf nur einen Satz herunterbrechen, was unpopulär ist. Wahrhaftig zu sein bedeutet, dem tiefsten inneren Kern seiner Persönlichkeit treu zu bleiben, was wiederum erfordert, dass man um diesen tiefsten Kern weiß.

Ein wahrhaftiger Mensch, ist ein reflektierter, ein zutiefst mit sich selbst verbundener Mensch, der weit davon entfernt ist, nur seinen Instinkten und körperlichen Bedürfnissen zu folgen.
Der spirituelle Mensch wird wahrscheinlich mehr der Wahrhaftigkeit folgen. Er wird eine Lüge nie ohne schlechtes Gewissen aussprechen können. Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit gibt es für mich kein Ankommen. Ich hinterfrage das Erlebte, ich prüfe auf Herz und Nieren, ich zweifle und misstraue oft meiner Wahrnehmung. Es hindert mich zwar nicht, auch mal einen Mythos zu erfinden, aber er wird nicht dauerhaft bestehen können. Der Erfolg ist also im Außen nicht sichtbar, denn ich werde das Ziel nie erreichen, so lange ich lebe. Wahrhaftigkeit ist, genau wie der Weltfrieden, die Liebe oder die Hoffnung, unerreichbar und dennoch erstrebenswert. In der Suche nach ihr, wachse ich. Es ist ein ständiger Neubeginn, denn morgen bin ich schon eine andere, als die, die ich heute bin und gestern war - und dennoch bleibe ich stets ich selbst.

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