Einfach loslassen. So wird es empfohlen, und ich denke mir jedes Mal, was daran einfach sein soll.
Hat nicht jedes Kind schon die Erfahrung gemacht, dass loslassen eine ganz und gar schwierige Sache ist? Man kann hinfallen, sich die Knie aufschlagen, bluten und Schmerzen haben. Mama kommt angerannt und schimpft: „Hab ich dir nicht gesagt, dass du nicht loslassen darfst? Du musst dich festhalten!“ Irgendwann habe ich es dann geschafft, loszulassen um laufen zu lernen. Es war befreiend, so ganz allein und selbstständig auf meinen dünnen Beinchen durch die Welt zu traben, anfangs noch wackelig und unsicher und jeden Schritt abwägend. Wenn der Boden uneben wurde, wollte ich gerne wieder auf allen Vieren vorwärtsrobben, aber das ließ mein Vater nicht zu: „Du bist jetzt ein großes Mädle. Du kannst laufen.“ Er nahm mich manchmal an die Hand, wenn wir die Stufen zur Kirche hoch mussten, jede Stufe war für mich kniehoch. Ich hielt seine Hand fest, sehr fest. Auf keinen Fall Fall wollte ich hinfallen und bluten. So dürfte ich die Kirche nicht betreten, mit einem blutenden Knie!
Sobald wir im überwältigend großen Kirchenraum waren, ließ mein Vater meine Hand los. Er musste seiner Arbeit nachgehen. Ohne sich nach mir umzudrehen, schritt er im Talar zum Altar, die Orgelmusik setzte ein, und ich stand im Mittelgang auf einem roten, rauen, etwas unebenen Teppich.
Gerne hätte ich noch weiter seine Hand festgehalten, ich war noch nicht bereit, allein dazustehen, selbst den Weg zu einem Platz zu finden. Er hatte mich losgelassen. Er war der Meinung, ein großes Mädchen findet auch allein seinen Platz. Bloß nicht hinfallen, dachte ich und denke es bis heute.
Ich prüfe den Boden, auf dem ich stehe. Gibt er mir Halt? Ich möchte nicht ausrutschen und doch hatte ich oft die Fantasie, auch noch jetzt als Erwachsene, was wäre, wenn ich mich einfach fallen lassen würde? Ohnmächtig am Boden liegen würde? Keine Verantwortung für mich oder für sonst jemanden mehr zu tragen hätte?
Ich stelle mir vor, wie dann alle angerannt kämen. Man würde einen Notarzt rufen, ich würde mit Tatütata ins Krankenhaus gebracht. Dort läge ich in einem blütenweißen Bett, würde künstlich beatmet und künstlich ernährt.
Die andere Variante: Ich lasse mich fallen. Liege wie leblos auf der Straße, aber es interessiert niemanden. Die Leute gehen an mir vorbei oder steigen über mich hinweg. Niemanden kümmert es, ob ich hier liege oder nicht. Es ist, als sei ich gar nicht da. Aus dem Leben gefallen, aus der Gesellschaft gefallen. Mir wird langsam ungemütlich. Es ist kalt und hart auf dem Boden. Ich will aufstehen. Irgendwo muss doch etwas sein, an dem ich mich festhalten kann um aufzustehen.
Heute Morgen war da ein Stift zum Schreiben.
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