Wahrhaftig auferstehen
Es waren die Ostertage im Jahr 2020, das letzte Ostern, das meine Mutter noch erleben sollte.Zwar wusste sie, dass sie eine unheilbare Krankheit hatte, aber erst im Oktober würde sie die Nachricht erhalten, dass es nur noch wenige Wochen bis Monate sein würden die sie zu leben hatte.
Trotzdem stand die Endlichkeit im Raum, das Wissen, dass die letzten Dinge geklärt werden müssten, dass die Zeit knapp wurde.
Wir saßen uns wie so oft beim Frühstück wortlos gegenüber, tranken unseren Kaffee, schauten hinaus zur Terrasse, wo die Vögel am Vogelhaus ihr Futter pickten, und ich wusste, dass ich mich mein Leben lang an diese Szene erinnern würde, an das Schweigen zwischen uns, an das Ungesagte, an die Unmöglichkeit, über all das zu sprechen, was wichtig gewesen wäre.
Schließlich begann ich, um die Stille für diesmal zu brechen, zu erzählen, dass wir kurz vor Ostern einen Gemeindebrief bekommen hatten, „S’Blättle“, in dem die Pfarrerin erklärte, dass es keine Auferstehung gäbe. Niemand würde wieder lebendig, es wäre einfach so zu verstehen, dass das Leben eben weitergeht, so wie das Gras im nächsten Jahr wieder wächst und eben andere Menschen geboren werden. Damit müsse man sich abfinden, das Leben sei kein Kasperletheater, wo der Kasper wieder aufsteht, nachdem er vom Krokodil gefressen wurde. Das stand da wirklich! Ich war fassungslos. Ist nicht der Glaube an die Auferstehung der Kern des Christentums?
„Ja, aber zurückgekommen ist noch keiner.“, sagte meine Mutter trocken.
Ich fand, es war die Zeit gekommen, dass ich meiner Mutter eine kleine Predigt halten musste und ich hoffte, dass sie sich zu gegebener Stunde daran erinnern würde.
„Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden.“ So heißt es, begann ich, so haben wir das in der Kirche gesungen und so habe ich es immer verstanden: Die Betonung liegt auf wahrhaftig. Wahrhaftig ist allerdings nicht zu verstehen im Sinne von „wirklich“ oder „tatsächlich“, sondern im Sinne von „in der Wahrheit“, in der „Wahrhaftigkeit“. Der Mensch kann, so lange er im Körper ist, nicht wahrhaft sehen und verstehen. Er hat vielmehr sein Leben lang eine Art Brett vor dem Kopf und ist massiv eingeschränkt, andere Sichtweisen einzunehmen als die eigene. Das kann man schon daran erkennen, dass es uns lebenslang eine Aufgabe ist, Mitgefühl aufzubauen, da wir sehr schwer die Wahrnehmung unserer Mitmenschen jeweils nachempfinden können. Erst wenn wir durch den Tod gegangen sind, unsere Seele sich vom Körper lösen konnte, werden wir wahrhaft sehen und verstehen können. Wir treten hinaus aus der Einschränkung, hinaus aus Körper, Materie, Raum und Zeit. So tritt auch der Jüngste Tag genau dann ein, wenn wir den letzten Atemzug hinter uns gebracht haben und es keine Zeit mehr für uns gibt.
Jünger kann der Tag nicht werden, als dann, wenn er sich selbst aufgehoben hat.
Der Trost der wahrhaftigen Auferstehung liegt für uns noch Lebenden vor allem darin, dass wir sicher sein dürfen, dass uns nach unserem Tod ein Licht aufgehen wird, dass wir verstehen und dass wir begreifen werden, wie und was und warum unser Leben so war wie es war. Wir werden den Sinn sehen in allem und die Liebe und Verbundenheit erkennen und spüren, nicht mit dem Körper, wohl aber mit dem Geist, der nicht an den Körper gebunden ist. Das ist die wahrhaftige Auferstehung.
Meine Mutter schwieg. Sie trank einen Schluck Kaffee, dann sagte sie: „Die Vögel brauchen neues Futter“
2021
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