MutterLiebe

 

Ich glaube, seit ich denken kann, lebe ich mit dem Tod. Er ist mir immer bewusst. „Ich bin die immerzu ans Sterben Denkende ", wie Ingeborg Bachmann schreibt. Mit dreizehn schrieb ich in mein Tagebuch: „…denn jeder Tag wird ein Sterbetag sein." 
Trotzdem hat man mich im Außen als ein fröhliches Kind wahrgenommen, „ein sonniges Mädle“, aber Zuhause war ich oft launisch, traurig, und wütend. Wut - das ist verdeckte, unterdrückte Trauer. 
Meine Mutter war die wütendste Frau die ich kannte - so war sie also die traurigste Frau, die ich kannte. Trotzdem hat sie viel gelacht. Über das Lachen meiner Mutter könnte ich auch ein ganzes Kapitel schreiben. Es gab eine Zeit, da war ihr Lachen so laut und kreischend, dass sich die Nachbarn beschwert haben. Wenn mir selbst mal so ein kreischendes, zu lautes Lachen entfuhr (weil man ja unbewusst als Tochter seine Mutter kopiert), dann hat sie das verabscheut und mich rüde zurechtgewiesen. Anscheinend fiel ihr da auf, wie verstörend es klang. 
Als ich in Namibia auf Reisen war, hörte ich nachts die Hyänen. Ich erschrak. Es hörte sich wie das Lachen meiner Mutter an, damals, in diesem Lebensabschnitt und es war unheimlich, es so nah zu hören, im Schlafsack unter einem namibischen Nachthimmel, sternenklar und dennoch gruselig. Das war eine Zeit, in der ich mich von meiner Mutter extrem abgelehnt fühlte - wie fast mein ganzes Leben lang, aber eben in dieser Zeit besonders. Es war ein ständiger Kampf zwischen uns, von ihrer Seite sehr von Rivalität geprägt. Sie hätte es gerne gehabt, dass wir beste Freundinnen wären und war tief gekränkt, wenn sie beobachtete, das ich enge Freundschaften mit Frauen hatte, die zwanzig bis dreißig Jahre älter waren als ich. Ohne diese Freundschaften wäre ich vermutlich zugrunde gegangen. 
Diese Frauen sind mir Freundin und Mutter zugleich. Und sie lieben und akzeptieren mich so, wie ich bin. Das hat meine Mutter nie getan. Sie wollte, dass ich wie sie wäre, wenn das nicht geklappt hat, hat sie versucht, mich zu imitieren, hat ähnliche Kleidung getragen, manchmal sogar die gleiche. Trotzdem musste sie damit leben, dass ich in so vielen Dingen anders war als sie und anders dachte. Das empfand sie als Herabwürdigung. Sie war verletzt, dass ich sie nicht bestätigte indem ich so wurde wie sie. Sie wollte bestätigt werden, weil sie nicht selbst an sich glauben konnte. Zu viele Schuldgefühle, zu viele Zweifel. Es ist kompliziert, das Leben. 
Erst im Sterben hat sie mich wirklich sehen gelernt und ich habe erst nach ihrem Tod gelernt, vieles besser zu verstehen. Alles hat seinen Ursprung. Nichts geschieht ohne dass es dafür eine Ursache gibt. Diesem Ursprung können wir nicht entweichen, weil er wie eine Wurzel ist, fest mit uns verankert. Vielleicht hilft es, wenn man diese Wurzel kennt. Ja, ich denke, es kann insofern helfen, dass wir dann die Möglichkeit haben, den Schmerz und die Wut - die Trauer ist- anders zu leben, vielleicht zu verwandeln. Wut ist versteckte Trauer, Trauer ist Liebe. 
Ich bin sehr oft traurig, weil ich ans Sterben denke. An mein eigenes, aber noch viel mehr an das Sterben meiner Lieben und daran, dass es diese Welt vielleicht eines Tages nicht mehr gibt. Denn wir müssen nicht darüber nachdenken, was wir hinterlassen, wenn es doch diese Welt dann auch nicht mehr gibt. Ich bin also traurig, weil ich letztlich das Leben doch liebe. Es bleibt die Hoffnung, dass es noch Leben außer der materiellen Welt gibt. Unzerstörbar und voller Liebe und Verbundenheit. Dahin möchte ich kommen, eines Tages, wenn uns die Erde genommen wurde, wenn der Hass, der Wut ist, die Trauer ist und die wiederum Liebe ist, alles aufgelöst hat. Meine Mutter ist jetzt vier Jahre nicht mehr in dieser Welt. Sie fehlt mir, aber ich weiß auch, ohne ihr Sterben hätten wir einander nicht erkannt und nicht verzeihen können.

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