"Jeder braucht eine Heimat. Man muss doch wissen, wo die Wurzeln sind."
Die alte Frau strich über ihre runzelige Hand, wieder und wieder, als seien das die Wurzeln, die sie soeben angesprochen hatte.
Heimat - das war ein Wort, das mir fremdartig im Mund lag, wenn ich es aussprach.
Meine älteste Freundin dagegen, mittlerweile 95jährig und blind, liebt es "Heimat" zu sagen. Als könnte sie damit alles heraufbeschwören, was sie hatte hinter sich lassen müssen, damals, auf der Flucht:
Das große Haus vom Gutsbesitzer. Das silberne Besteck. Das erste Auto im Ort. Das Dienstmädchen. Heimat.
Heimat, das hieß Wohlstand und vor allem Sicherheit. Heimat war Sorglosigkeit. Natürlich war das Haus aus solidem Stein gebaut. Niemand zweifelte auch nur einen Moment daran, daß es viele Generationen überdauern würde. Und doch war alles anders gekommen. Niemals mehr hatte sie es wiedergesehen.
Ich verweigerte mich stets diesem Begriff "Heimat" und verkündete, ich sei überall zuhause. Bis ich eines Tages vor einem Haus stand. Es schien, als lächelte es mir zu, ein wenig augenzwinkernd: "Du darfst mich bewohnen."
Es war nicht aus Stein. Es war aus Holz. Seine Wärme legte sich zärtlich auf meine Haut, als wolle es mich beruhigen: "Du musst keine Angst davor haben, sesshaft zu werden!"
Doch, ich hatte Angst. Wer soll das bezahlen? Wieviel muss ich arbeiten, um mir das leisten zu können? Meine Gedanken waren laut, hallten gegen die Wände der noch leeren Räume.
Das Haus lächelte nachsichtig: "Komm erstmal an, dann sehen wir weiter."
Inzwischen ist das Haus wie eine zweite Haut für mich geworden. Haus - Haut. Nur ein Buchstabe trennt uns. Jeder Raum scheint ein Spiegel für meine inneren Räume zu sein, und ich betrete sie freudig, manchmal überrascht, weil sie sich ändern, sich beleben oder ganz still werden.
Das Haus sorgt für mich. Es bemuttert mich. Schickt durch die hellen Fenster das Leuchten der Sonne, um meine Tränen zu trocknen. Lässt die Töne erklingen, die ich singe und speichert das Lachen aller Mitbewohner in seinen hölzernen Wänden.
Das Haus atmet und lässt mir Zeit.
Ich möchte es gern meine Heimat nennen.
2014
Kommentare
ich glaube, es gibt nicht viele Menschen die auch nur auf die Idee kämen, ihr Zuhause mit solchen Gedanken geschweige denn *Augen anzusehen..
wouw...welch ein schöner Gedanke, zärtlich und sanft, verständnisvoll für die Ausstrahlung und das Wesen eines Zuhauses..
wunderschön und empathisch geschrieben.. herzlich angel