Mein Leben auf zwei Ebenen

 

Ich lebe in zwei Welten. Tagsüber das, was man gemeinhin Realität nennt, nachts, oder dann, wenn ich mich schlafen lege, beginnt das Traumleben, das fantastische. In diesem Paralleluniversum gibt es fast keine Grenzen. Tote erscheinen in aller Lebendigkeit und zeigen sich mir mal jung, mal älter. Ich verliere meinen Geldbeutel, habe aber am nächsten Tag gleich wieder einen. 
Dinge sind da, wenn ich sie brauche, und weg, wenn ich sie nicht brauche. Ich schwebe zu Orten hin, sehe alles in den schönsten Farben, kann essen, was ich will und bin zu akrobatischen Sprüngen fähig. 
Gewiss, es gibt auch Verfolgungsjagden, bei denen mir der Angstschweiss aus den Poren rinnt, lebensgefährlich scheint es, aber in dieser Traumwelt bin ich letztlich doch immer unsterblich. Egal wie groß das Ungeheuer, das mich verschlingen will ist, es ist nichts, was mich umbringt. 
Vom Balkon lächelte mir letzte Nacht winkend Ingeborg Bachmann zu und fragte, wann ich nach Klagenfurt komme um die drei Wege zum See zu gehen. 
Und neulich stand Rosel Zech mit einem Karton Büchern vor meiner Haustür und meinte, die seien alle aus ihrem Nachlass und gut bei mir aufgehoben. 
Ich schwebte mit Hildegard von Bingen mehrere Meter über dem Boden, nachdem ich tagsüber erfahren hatte, dass sie in diesem Jahr heilig gesprochen werden soll. Hoch in der Luft strampelten wir mit den Beinen und wenn jemand nach oben sah, hoben wir den Rock und zeigten unsere schwarzen Leggings. 
Im Traumland stoße ich auch auf Grenzen. Manchmal halte ich Vorträge, bei denen niemand zuhört. Ich versuche zu telefonieren und kann die Zahlen nicht eintippen. Mein Mund ist voll Kaugummi, den ich nicht mehr herausbekomme. Aber egal wie unangenehm die Situation ist, ich weiss: Im nächsten Traum wird alles anders! Dann verreise ich vielleicht, immer meinen dreijährigen Bruder dabei, der mit mir alle Abenteuer besteht. Letztens waren wir an der Algarve. Es war sehr einfach, dahin zu kommen. Man sagte uns auf dem Flughafen, wir sollten nur auf eine höhere Ebene gehen - und schon waren wir da! 

In meiner Ausbildungszeit sagte meine Schauspiellehrerin nach einer Unterrichtsstunde sehr oft: "Und jetzt gehst du nach Hause und schläfst drüber." Sie wusste, dass ich gern im Schlaf "arbeite". Dort im Traumland bekomme ich die besten Ideen. Ich kann mich mit den Dichtern und Denkern aus grauen Vorzeiten persönlich beraten. Einmal habe ich sogar eine Oper gesungen, die Carmen, genauso, wie sie von Bizet gedacht war! Natürlich ist es manchmal ernüchternd, aufzuwachen und kein Ton kommt aus meiner trockenen Kehle. Und auch mit viel Anlauf hebe ich nicht zum Fliegen ab... 
Aber beim nächsten Singen, traue ich mir mehr zu! Beim Tanzen erinnere ich mich an meine Flugkraft, und wenn ich an meinen Fähigkeiten zweifle, wenn es nur Hürden zu geben scheint, dann denke ich an diese feinstoffliche Welt, wo alles gleichzeitig geschieht, Fähigkeiten und Unfähigkeiten sich die Hand reichen, um sich urplötzlich aufzulösen in ein Nichts und ein Alles.

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