Waltrauds Erwachen

Als Waltraud erwachte, spürte sie schon, dass ihr Atem anders war als sonst. Sie hatte geschwitzt, die ganze Nacht. Das Laken war wieder mal klitschnass. Sie riss geradezu ihr Nachthemd vom Leib und eilte mit hochrotem Kopf ins Badezimmer. Das Fenster dort war offen. Eine sanfte Brise wehte herein, und der Duft von frisch gemähtem Gras kitzelte ihr um die Nase. Sie holte tief Luft. Sollte sie wie jeden Morgen auf die Waage? Das Gewicht zu kontrollieren, war ihr mittlerweile Gewohnheit geworden und morgens war man ja bekanntlicherweise leichter als abends. Nein, heute nicht, dachte sie und stellte sich trällernd unter die Dusche. Eiskalt zu duschen, das hätte sie sich nie vorstellen können, aber nun war es eine Wohltat. Erfrischt trocknete sie sich ab. Sie sah in den Spiegel. Nein! Was war das?! Sie konnte ihren Augen nicht trauen: Ein Fleck, ein dunkler Fleck am Kinn! Nicht groß, aber ganz klar sichtbar. 
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hörte die Stimme ihrer Ärztin Frau Doktor Frey, die ihr beim letzten Termin in bedauerndem Ton und auf schwäbisch gesagt hatte: „Ach das sind Altersflecke! Nix Bösartiges, aber das kommt und geht auch nimmer. Daran müsset Sie sich gwöhne. Es wär ja unfair gegenüber über den Achtzehnjährigen, wenn wir Mitte fünfzig immer noch ä Pfirsichhaut hättet.“ 
Waltraud wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, blinzelte und versuchte, sich im Spiegel ermunternd zuzulächeln. „Kopf hoch, Waltraud,“ sagte sie laut. „Jede Falte, jeder Altersfleck ist gelebtes Leben.“ 
Sie zog sich an und holte sich einen heiß dampfenden Kaffee. Damit setzte sie sich auf den Balkon, sah in den Himmel, in die zartrosa Wolken, bemerkte wie der Güllewagen vorbeifuhr und die Luft mit beißendem Amoniakgeruch schwängerte, und sie dachte: „Ohne Gestank kein Duft, ohne Dunkel, kein Hell, ohne Dick, kein Dünn und ohne Alter keine Jugend.

Kommentare