Verschicktes Kind

Als Kind wurde ich zweimal „verschickt“. Das war in den 60er/70er Jahren gar nicht so ungewöhnlich. Kinder, die etwas unterernährt oder kränklich wirkten, verschickte man wie ein Paket mit Namen und Adresse um den Hals in Erholungsheime. Sechs Wochen. Allein. 
Das erste Mal war ich knapp vier Jahre alt und sowohl mein Abschied, als auch meine Ankunft nach eineinhalb Monaten sind dokumentiert. An der Hand eines Bekannten der Familie trabte ich frohgemut Richtung Bahnhof, einem vermeintlichen Abenteuer entgegen, nicht wissend, dass ich für ewig lange Zeit niemanden meiner Familie sehen würde. Mein Vater beschwerte sich noch, dass ich mich nicht mal umgedreht hätte und auch keinen Abschiedskuss gegeben hätte. Ich wollte nur eins: Zugfahren!
Tatsächlich war ich leicht unterernährt, denn Kinderkrankheiten und der Tod eines Geschwisterchens hatten mir die Lust am Essen genommen. Viele Erinnerungen habe ich an diesen Aufenthalt nicht mehr, doch dass es immer, tagaus tagein, ums Essen ging, ist mir geblieben. Ein Vitaminsaft musste getrunken werden, man durfte nicht aufstehen, bevor nicht der ganze Teller leer gegessen war. So saß ich manchmal sehr lange an einem bereits leeren Tisch. 
Zu einem Zeitpunkt als ich schon nicht mehr damit rechnete, meine Eltern je wiederzusehen, wurde ich abgeholt. Meine Mutter stand mit Tränen in den Augen da – sie erkannte ihr Kind nicht mehr! Ich hatte runde Backen bekommen, war pummelig geworden und schaute sie mit befremdetem Blick an. Wir mussten uns wieder neu kennenlernen. Und auch meinem Vater sprang ich nicht wie sonst ungestüm in die Arme. Zuhause angekommen, fragten sie mich, was ich denn gern essen möchte. „Schwarzwälder Kirschtorte“, antwortete ich. Dass ich die dann, auf dem Wohnzimmersofa fläzend, schlemmte, war meinen Eltern wohl in diesem Moment egal. 
Pummelig bin ich Gott sei Dank nicht geblieben, obwohl ich auch heute noch Sahnetorten liebe. Aber etwas habe ich mir seit damals angewöhnt: Egal wohin ich gehe, ich verabschiede mich grundsätzlich von meinen Liebsten, als würde ich auf Weltreise gehen.

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