Hilfe, ich bin pünktlich und zuverlässig!

Immer war ich der Meinung, man würde bei Unpünktlichkeit schräg angesehen. Warum? In meiner Schauspielausbildung war es eines der obersten Gesetze pünktlich und zuverlässig zu sein. Denn ein ganzes Ensemble nebst Publikum ist von deiner Pünktlichkeit abhängig. Wer eine Vorstellung vergisst, verpennt und verpasst hat, dem droht eine Konventionalstrafe, die sich gewaschen hat. Sie kann einen finanziell ruinieren und dazu noch den Job kosten. 
Kein Wunder, bin ich immer und überall zehn bis fünfzehn Minuten eher da. Egal wie spät ich dran bin, wieviele Staus auf den Straßen meine Pünktlichkeit zu bedrohen scheinen, ich bin rechtzeitig da. Sogar dann, wenn ich von unterwegs angerufen hatte, dass es später werden könnte. Bisher dachte ich, das sei eine Tugend. 
Umso unverständlicher war mir letzthin der Zuruf: "Was!? Du schon hier??", bei dem ich mich nur mit Mühe davon abhalten konnte, wieder auf dem Absatz kehrt zu machen. Die Veranstaltung, die auf eine bestimmte Uhrzeit angesetzt war, zögerte sich hinaus. Tröpfchenweise trudelte man ein. "Sind nun alle da? Können wir anfangen? Ach nein, einige fehlen noch. Ob die wohl kommen? Nun ja, dann fangen wir doch an. Huch! Es klingelt! Ach, da sind noch welche..." Gemütliches Schlurfen zu den Plätzen... Ich äußerte humorvoll und doch mit einem Funken Ernst dahinter meine Einstellung zur Pünktlichkeit. Die Blicke die ich dafür erntete waren große Fragezeichen. Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind für mich Zeichen der Wertschätzung, fuhr ich fort. Die Fragezeichen wurden noch größer. Fast bekam ich Angst, man hielte mich für spießig und kleinkariert. Mir wurde allmählich klar, warum es so schwierig ist, Kurse und Veranstaltungen zu organisieren. Verbindlichkeit ist nicht mehr angesagt. 
Verbindlichkeit hat für mich etwas mit Verbundensein zu tun. Merkwürdigerweise ist dieses Verbundensein im Zeitalter der online Meetings meiner Beobachtung nach noch unverbindlicher geworden. Obgleich man eine gute Internetverbindung braucht, sind scheinbar die zwischenmenschlichen Verbindungen zu Bruch gegangen. Keinem ist mehr bewusst, dass er Teil einer Gruppe ist, und dass es einen Riss, eine Störung gibt, wenn wir Vereinbarungen nicht mehr ernst nehmen. Das gilt auch bei scheinbar anonymen Veranstaltungen. Wie peinlich und rücksichtslos ist es, wenn zu spät Gekommene ein schönes Konzert stören! Verbindlichkeiten einhalten, bedeutet auch Selbstwertschätzung. Man ist immer wichtiger Teil eines Ganzen und trägt mit seiner Zuverlässigkeit zum Gelingen bei. Möglicherweise ernte ich nun wieder ratlose, fragende Blicke. Dann tut es mir leid. 
Entschuldigung, dass ich schon da bin!

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