Ein göttliches Versprechen

Ein trüber, regnerischer Nachmittag war es, als sich Frau K. bereit machte. Sie fühlte schon seit dem frühen Vormittag ein deutliches Drängen, ein Kribbeln, das sich vom Bauch bis in die Fingerspitzen ausbreitete und ihr ganz klar signalisierte: Heute war der Tag, jetzt und zu dieser Stunde sollte es sein. 
Sie zog sich also eine Strickjacke über, kochte einen extra starken Kaffee und öffnete schließlich feierlich ihr Laptop. Andächtig wartete sie, bis es hochgefahren war und startete dann das Schreibprogramm. Es hieß „Textkraft“. Sie liebte diesen Namen, denn das war es, was sie wollte: Texte schreiben, die Kraft gaben, die bekräftigten. Sie würde der Welt etwas geben mit ihren Worten. Ihre Texte würden die Menschen bestärken. Und auch sie selbst, so hoffte sie, würde nun zu einer neuen Kraft finden, wenn sie heute den Anfang machte. 
Sie lächelte freundlich die weiße Fläche an, die nun den Bildschirm ausfüllte und in der der Cursor einsam und erwartungsvoll pulsierte. Mit einem tiefen Atemzug begann sie zu tippen: „Die abenteuerlichen…“. Es klingelte an der Tür. Erschrocken zuckte sie zusammen. Nein! Keine Störung, jetzt nicht! Es klingelte ein zweites Mal, diesmal an der anderen Klingel, die schriller und lauter war, drängend und im Unterton einen fast anschrie: Mach jetzt sofort die Tür auf! Ach so, ja, dachte Frau K. und seufzte. Der Handwerker hatte sich für den Nachmittag angesagt. Wie im Übrigen schon die ganzen letzten Tage. Sie war deshalb ständig vergebens auf der Lauer gelegen, hatte sich die Nachmittage freigehalten, bis sie es leid war und jede Hoffnung aufgegeben hatte, dass noch irgendwer kommen würde und ihren vermaledeiten Toilettenabfluss von dem mysteriösen Gurgeln und Brodeln befreien würde. Beim dritten Klingen tapste sie in ihren Plüschpantoffeln endlich zur Tür. 
Mein Gott, wie sie aussah, dachte sie beim flüchtigen Blick in den Spiegel bei der Garderobe. Ungekämmtes, verwuscheltes weißes Haar, wie bei einer vom Wind derangierten Pusteblume, umrahmte ihr leicht mürrisch gerötetes Gesicht. Die helle knielange Strickjacke und die grauen Leggings waren nicht gerade ein gesellschaftsfähiges Outfit, aber ein Handwerker würde dem wenig Beachtung schenken. Ein „Na endlich!“ auf den Lippen öffnete sie die Tür. Sie stockte. Vor ihr standen zwei adrette Herren in maßgeschneiderten dunklen Anzügen, korrekt geknoteten Krawatten und aufgespannten Schirmen, auf die der Regen lautstark nur so niederprasselte. Frau K. war für Sekunden unschlüssig. Sollte sie die beiden armen Tröpfe, das waren sie ja nun buchstäblich, hereinbitten? Nein. Man hörte schließlich täglich Warnungen, fremden Menschen bloß keinen Zutritt zur Wohnung zu gewähren, weshalb Frau K. die stummen Gestalten nun einfach mit „Ja, bitte?“ ansprach. 
Einer der beiden Herren trat nach vorne, während der Zweite etwas devot einen Schritt zurück ging, als habe er sich ein wenig über Frau K.s zerzauste Erscheinung erschreckt. „Guten Tag“, begann der Vordere. „Mein Name ist Halbweg und dies ist Herr Mittendorf“, dabei zeigte er auf seinen Kollegen hinter ihm. „Wir möchten Sie gerne etwas fragen“. Frau K. schwante schon, was jetzt folgen würde und sie straffte ihren Oberkörper, bereit für einen Auftritt. Denn das würde es zweifellos werden: Ein Auftritt vor einem Publikum, wenn auch einem kleinen, aber es war ihre Chance, sich wieder warm zu spielen nach jahrelanger Bühnenabstinenz. 
Frau K. hatte nämlich vor Jahrzehnten die Theater der Provinz gefüllt, hatte mit viel Herzblut Goethe, Schiller, Kleist und etlichen Boulevardstücken, Musicals und Bauernschwänken Leben eingehaucht, hatte ihre kabarettistische Ader zwar nie voll ausleben können, aber dennoch in einigen Szenen zum Besten geben dürfen. Dies alles lag nun schon so lange zurück. Ihr Lebensweg hatte sie noch auf viele andere Pfade geführt, denn Frau K. war schon früh klar geworden, dass sie sich schlecht unterwerfen konnte, und das musste man nun mal in einem Theaterbetrieb. Tatsache aber war, dass Frau K. in ihrem tiefsten Inneren eine Schauspielerin war, eine, die Publikum brauchte, wie andere Menschen die Luft zum Atmen. So kamen ihr die Herren Halbweg und Mittendorf gerade recht. 
Mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen antwortete sie: „Aber bitte, sehr gerne, nur zu. Fragen Sie!“, dabei deutete sie eine kleine, kaum sichtbare Verbeugung an und öffnete den rechten Arm einladend und mit anmutiger Geste. Herr Halbweg schaute etwas irritiert. Er war sich nicht sicher, ob Frau K. ihnen anbot, einzutreten. Aber nein, sie blieb in der Tür stehen und sah die beiden Herren erwartungsvoll an. So holte er tief Luft und fragte eindringlich: „Glauben Sie, dass in der heutigen Zeit Gott noch mit uns ist?“ Frau K. schaute die beiden Herren warmherzig an und antwortete mit einem inbrünstigen: „Aber ja!“ Mittendorf warf Halbweg einen verwirrten Blick zu. Der Regen hämmerte inzwischen fordernd auf beider Regenschirme ein, als würde der Herr im Himmel mit aller Macht persönlich anklopfen. Während Halbweg Frau K. gespannt und aufmerksam ansah, tippte Mittendorf hektisch auf seinem Handy. 
„Sehen Sie sich diese Birke an“, fuhr Frau K. fort. Ihre Köpfe drehten sich gleichzeitig zu der haushohen Birke im Vorgarten von Frau K. Dicke Tropfen hingen träge an den Blättern, bevor sie auf die Erde platschten. Ein kleiner Windstoß schüttelte die Zweige und man konnte eine Art zartes Flüstern wahrnehmen. „Ist sie nicht ein fantastisches Werk Gottes?“ Frau K. bemerkte aus den Augenwinkeln das stumme, vage Kopfnicken der beiden Herren, was ihr Anlass genug war, mit ihrer Rede fortzufahren. „Wissen Sie, Gott ist ja nicht ein alter Mann mit Bart, der irgendwo auf einer Wolke im Himmel sitzt. Da sind wir uns doch einig, oder? Gott ist weder Mann noch Frau, nicht Fisch, nicht Fleisch. Und dennoch! Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, so heißt es doch in der Bibel, nicht wahr? Und an anderer Stelle wieder: Du sollst dir kein Bildnis machen von Gott. Ja was denn nun? Gott ist eben sowohl der Baum, als auch die Menschheit, Gott ist der Himmel und die Erde. Gott ist in jedem Teil dieser wunderbaren Schöpfung. Gott ist die Liebe, so heißt es doch auch. Und das finde ich ganz schlüssig. Ersetzen Sie mal im Gesangbuch und in der Bibel die Worte „Gott“ und „Herr“ mit dem Wort Liebe - schon ergibt sich eine neue, sehr angenehme Sicht, finden Sie nicht? „Unsere Liebe im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme…usw.“ Ja, meine Herren, Gott ist die Liebe und immernoch unter uns.“ schloss Frau K. und legte eine kleine Atempause ein. 
Halbweg nutzte diese geschwind, indem er rasch seine nächste Frage stellte: „Und glauben Sie, dass die Bibel Gottes Wort ist?“ Frau K. nahm auch diese Frage ganz so, als würden zwei ahnungslose Außerirdische sie um ihren weisen Rat bitten. Sie wackelte mit dem Kopf nach rechts und links und von links nach rechts, als würde sie abwägen und antwortete dann mit „Jein“ Halbweg sah zu Mittendorf, der offenbar alles im Handy notierte, und so sprach Frau K. laut und deutlich, sozusagen zum Mitschreiben weiter: 
„Die Bibel wurde von unterschiedlichen Menschen zu unterschiedlichen Zeiten geschrieben, und das, nachdem erstmal mündlich so einiges weitergegeben wurde. Das ist wie bei der stillen Post. Sie flüstern jemandem ins Ohr: Jesus weilte in Nazareth, und am Ende kommt raus: Jesus heilte den Lazarus. Die Bibel wurde also von Menschen geschrieben, aber da wir Menschen ein Teil Gottes sind, ist die Bibel auch ein bisschen von Gott geschrieben worden, finde ich. Man darf sie nur nicht zu ernst nehmen, nicht zu wörtlich. Aber sie ist durchaus gutgemeint.“ 
Nun holte Mittendorf tief Luft. Die Schulterpolster seines Anzugs hatten schon dunkle feuchte Flecken und es war ihm anzusehen, dass er sich nicht wirklich wohlfühlte in seiner Haut. „Junger Mann“ fing Frau K. wieder an, noch bevor er zu Wort kam. „Ich sehe, Sie müssen das erstmal setzen lassen. Merken Sie sich am besten nur eines: Gott ist die Liebe. Nun gilt es einzig, herauszufinden, was denn Liebe ist. Das, soviel muss ich zugeben, ist natürlich eine anspruchsvolle Arbeit, aber eine lohnenswerte. Ich verspreche Ihnen, Gott wird Ihnen bei dieser Suche zur Seite stehen.“ Sie zwinkerte den beiden Herren zu und deutete nochmals vielsagend zum Himmel, wo sich gerade ein leuchtender Regenbogen zeigte, und noch ehe die verwunderten Blicke der zwei dieses Naturschauspiel erfassten, hatte Frau K. ihre Haustür geschlossen und sich mit einem Aufatmen an ihren Schreibtisch gesetzt. „Die abenteuerlichen Auslegungen der Bibel im 21. Jahrhundert“, hämmerte sie in ihre Tasten. 
Die beiden dunklen Gestalten auf der nassglänzenden Straße entfernten sich überraschend langsam, fast nachdenklich. In den Pfützen spiegelte sich der verblassende Regenbogen und wenige Sekunden später war alles wieder grau und menschenleer, als wäre nichts geschehen.

Kommentare

sissi hat gesagt…
Manchmal braucht es Inspiration ...
da ist es schön, wenn es unerwartet an der Tür klingelt.
Ich horche, höre nichts. Leider.
Einen Versuch war es wert ;-)